Interview mit Maria Sibylla Merian (1647-1717) im Jahr 2018
Verehrte Frau Merianin, Sie sind Frankfurterin und haben die zweite Hälfte Ihres Lebens in Amsterdam gelebt. Dort sind Sie als Künstlerin und Insektenforscherin weltberühmt geworden. Wie war Ihre Kindheit in Frankfurt?
Ich bin in einer – wie Sie heute sagen – „Patchwork-Familie“ aufgewachsen. Mein Vater, der berühmte Zeichner, Kupferstecher und Verleger Matthäus Merian der Ältere, starb leider schon, als ich drei Jahre alt war. Meine Mutter heiratete, wie das damals üblich war, bald wieder. Jakob Marrell war ebenfalls verwitwet und brachte Kinder mit in die Ehe. Er war uns allen ein guter Vater, auch wir Mädchen durften in seiner Werkstatt helfen.
Wie kam es zu Ihrer Ehe mit einem Nürnberger?
Als ich sechs Jahre alt war, kam ein neuer Lehrling aus Nürnberg zu uns. Johann Andreas Graff war früh verwaist und für fünf Jahre wurden wir seine Familie. Anschließend ging er nach Italien, um alles zu lernen, was damals neu und angesagt in der Kunst war. Als er nach sechs Jahren zurückkam, war es in unserer Werkstatt still geworden, aber nun begann für mich ein neuer, aktiver Lebensabschnitt. In den gedruckten (!) Hochzeitsgedichten von unseren Verwandten und Freunden können Sie heute noch nachlesen, dass alle uns beide mit unseren künstlerischen Talenten lobten und dass es von Anfang an klar war, dass ich keine „Nur-Hausfrau“ werden wollte und sollte. Besonders gefällt mir der humorvolle Spruch eines Freundes: „Drumb pinselt umb die Wett“.
In diesen Hochzeitsgedichten heiße ich übrigens „Merianin“ und nach unserer Hochzeit „Frau Gräffin“. Die weibliche Endung am Familiennamen war damals normal und ich freue mich, dass dies in Nürnberg heute wieder beachtet wird.
In der Literatur taucht Nürnberg oft nur als Zwischenstation in Ihrem Leben auf. Haben Sie noch Erinnerungen an unsere Stadt?
Der Umzug nach Nürnberg zusammen mit meinem Mann und unserer vor wenigen Monaten geborenen ersten Tochter Johanna Helena dauerte etliche Tagesreisen und war für mich ein großes Erlebnis. Mädchen und Frauen mit Kindern reisten damals nur selten. Ich sah unbekannte Landschaften und Städte und der erste Blick auf Nürnberg mit seinen starken Stadtmauern, hohen Türmen und der ehrwürdigen Kaiserburg ist unvergesslich für mich. Das stattliche Fachwerkhaus „Zur Goldenen Sonne“ war eine schöne neue Heimat. Es lag am „Alten Milchmarckt“ zwischen Sebalduskirche und Kaiserburg und mein Mann hatte es von seinen Eltern geerbt.
Hat sich dieser erste Eindruck im Lauf Ihrer vierzehn Nürnberger Jahre bestätigt oder haben manche Romanschriftstellerinnen Recht, die ein dunkles, beengendes Bild von Nürnberg zeichnen und Ihren Mann als leistungsschwachen, aggressiven Trunkenbold charakterisieren?
Das ist wirklich ärgerlich, wie weit manche Autorinnen um der Dramatik willen die Realität verfälschen. Ohne die tatkräftige Unterstützung meines Mannes hätten in meiner Nürnberger Zeit nie fünf Druckwerke erscheinen können (drei Blumenbücher und zwei Raupenbücher). Ich durfte sogar Töchter von Nürnberger Familien im Malen und Sticken unterrichten. Einer der Leiter der Malerakademie, die als wichtige kulturelle Einrichtung am Ende des schrecklichen Dreißigjährigen Kriegs gegründet wurde, gab mir Unterricht.
Die wohlhabenden Bürger öffneten mir ihre Gärten, damit ich die Raupen auf ihren Wirtspflanzen beobachten und einsammeln konnte. Ein einflussreicher Verwandter einer meiner Schülerinnen überließ unserer Familie einen hübsch gelegenen Garten neben der Kaiserkapelle auf der Burg zur Nutzung. Alle diese günstigen Lebensumstände trugen dazu bei, dass ich in Nürnberg meine Fähigkeiten entfalten und den Lebenszyklus der Insekten zum lebenslangen Thema meiner künstlerischen und forschenden Arbeiten entwickeln konnte.
Sie wissen sicher, dass unser Familienhaus die schrecklichen Zerstörungen Nürnbergs im (hoffentlich!) letzten europäischen Krieg, den Sie den „Zweiten Weltkrieg“ nennen, unversehrt überstand, ebenso wie das zweistöckige Gartenhaus in unserem Garten aus stabilem Fachwerk. Heute trägt dieser Garten als Erinnerungsort meinen Namen.
Was hat Sie am meisten fasziniert?
Es waren die überraschenden Veränderungen von Eiern über Raupen und Puppen zu einem neuen Lebewesen, also ihre Metamorphose, deren Ergebnis nicht immer ein prächtiger Schmetterling war. Ich liebte die „Sommervögelein“, die Sie heute Tagfalter nennen, aber ich schenkte meinen „Motten“, Ihren Nachtfaltern, die gleiche Aufmerksamkeit. Ich habe nicht unterschieden zwischen sogenannten Nützlingen und Schädlingen. Ich wollte in meiner künstlerischen Arbeit Gottes Schöpfung in ihrer Vielfalt zeigen, auch den Lebenszyklus von nützlichen Bienen und Seidenraupen sowie von Käfern und Fliegen und alle zusammen mit ihrer jeweils eigenen Pflanzenwelt.
Warum haben Sie Nürnberg nach vierzehn erfolgreichen Jahren mit Ihrer Familie wieder verlassen?
Nach dem Tod meines Ziehvaters fühlten wir uns verpflichtet, uns intensiv um meine verarmte, gealterte Mutter in Frankfurt zu kümmern. Aber die Lebensumstände dort entwickelten sich nicht so, wie wir es uns erhofft hatten, und vier Jahre später zogen wir weiter in eine streng religiöse Labadistengemeinde in Friesland. Aber Johann Andreas wurde nicht in diese Religionsgemeinschaft aufgenommen und ich trennte mich endgültig von ihm. Zu weiteren Details über das Scheitern unserer Ehe möchte ich mich nicht öffentlich äußern und bitte Sie hierfür um Verständnis.
Waren mit der Trennung von Ihrem Mann Ihre Beziehungen nach Nürnberg endgültig beendet?
Keineswegs! Ich wurde ja immer mehr zu einer aktiven Geschäftsfrau, die ihre Bücher und präparierten Naturalien wie Krokodile, Schlangen, Schildkröten selbstständig auch nach Nürnberg verkaufte. Nach meiner spektakulären Expedition in die niederländische Kolonie Surinam in Südamerika habe ich sogar ein großformatiges Werk über die prächtigen tropischen Insekten mit den dazugehörigen Pflanzen geschaffen, Stecher sowie Drucker beauftragt und das große verlegerische Risiko getragen. Das Germanische Nationalmuseum besitzt ein besonders wertvolles koloriertes Exemplar.
Was können die Nürnberger zu Beginn des 21. Jahrhunderts von Ihnen und Ihrer Zeit lernen?
Die Menschen in den Jahrhunderten nach meinen Forschungen haben meinen genauen Blick auf die Insektenwelt gelobt und meine Liebe zur Natur, die ich mit den Nürnbergern teilte. Sie waren zu meiner Zeit wahrscheinlich die größten Gartenliebhaber in Europa. Nirgendwo sonst gab es einen solchen grünen Gürtel mit hunderten von privaten Gärten rund um die Stadtmauer bis zur äußeren Befestigung durch den Landgraben mit den Schanzen. Ärzte, Apotheker, Kaufleute, Handwerker, Wirte – kurzum viele Nürnberger Familien nicht nur aus der Oberschicht – erholten sich im Sommer in ihren Gärten gern von der Hitze und dem Gestank in der engen Stadt.
Neben Obstbäumen und Sträuchern, Gemüse, Kräutern und Blumen als Lebensraum für Vögel, Insekten und Nachkommen von Dürers Hasen pflegten wohlhabende Nürnberger ein besonderes Hobby: Sie importierten kostspielige Zitrusgewächse aus Italien und scheuten keine Mühe, damit diese empfindlichen Zuwanderer die kalte Jahreszeit in geheizten Gartenhäusern überleben konnten. Ich weiß, dass sich die bebaute Stadt inzwischen weit ins Umland ausgedehnt hat, aber es gibt überall Möglichkeiten, wieder an diese wundervolle Tradition der Nürnberger Gärten anzuknüpfen: Alle vorhandenen Bäume in der Stadt müssen intensiv gepflegt werden. Aufmerksame Bürger dürfen sich nicht entmutigen lassen und sollten immer wieder neue Standorte für Bäume vorschlagen. Großzügige, bepflanzte Baumscheiben sind auch Lebensraum für meine geliebten Insekten.
Aber ich möchte Sie nicht langatmig belehren. Mir gefällt es, wie Sie heute, 350 Jahre nachdem ich in Ihre Stadt kam, Ihre Wünsche kurz und eindrucksvoll auf den Punkt bringen können. Ich möchte das auch versuchen und Ihnen meine „Strategie der vier bunten Bs“ empfehlen:
- Die bunten Baumscheiben unter immer mehr Stadtbäumen in Nürnberg habe ich schon genannt.
- Balkonkästen bieten Raum für Kräuter, die nicht nur Ihren Speiseplan gesund bereichern, sondern auch Insekten Nahrung bieten.
- Beete in Privatgärten mit nektarreichen Blüten sind kleine Paradiese für Bienen und Schmetterlinge.
- Für Blumenwiesen gibt es in Parks, auf Friedhöfen und am Flussufer der Pegnitz viel Raum neben grünem Rasen.
Die Initiative „MERIANIN 2018+ – Neuer Lebensraum für Insekten“ gibt gern Auskunft über diese und weitere Möglichkeiten. Ich freue mich, wenn ich als Vorbild mit meinem weltbekannten Namen dazu beitragen kann, den Menschen noch einmal die Augen dafür zu öffnen, wie schutzbedürftig unsere natürliche Umwelt ist. Dafür übernehme ich gern die Schirmherrschaft.